Über die Eitelkeit und andere nützliche Motive, eine Autobiographie zu lesen
Der Dienstagmittag war
regenverhangen in Erfurt, und da ich zu früh dran war, trat ich in das mildtätige
Geschäft von Oxfam ein, mich unter den Augen wohlkonservierter älterer Damen die
nächsten zehn, zwanzig Minuten herumzudrücken und vor dem einsetzenden
Dauerregen zu schützen. Ein wunderbarer, ein ordentlicher Laden, die Bücher
reichlich und wohlsortiert. Die überwiegende
Zahl davon autobiographischen Inhalts. Und davon die meisten von
Schauspielerinnen.
Wie
gesagt, ich musste Zeit totschlagen, also hatte ich welche, um die erste These
meiner geplanten Biographie der Autobiographien zu formulieren, und die geht
so: Autobiographien erfreuen sich deshalb eines besonderen Zuspruchs der
Leserinnenschaft, weil sie der Spiegel des eigenen, so nicht gelebten Lebens sind.
Nicht meine Lektüre, so dachte ich, wohl wissend, dass ich erst vor zwei Wochen
das schlechte Wetter zu Weihnachten nutzte, um parallel drei autobiographische
Texte zu lesen. Hier sind sie:
Eins
Der Buchtitel lautet Knife, so wie im amerikanischen Original,
ansonsten handelt es sich um eine Übersetzung ins Deutsche. Ich nehme an, dass
den Bertelsmännern das Wort Messer
inopportun erschien, hat doch das Messer im Deutschen keinen guten Klang mehr, wo
man zwar lauthals über Messerverbotszonen debattiert, es aber ablehnt, die
Illegalen, die das Problem erst schufen, achtkantig aus dem Lande zu werfen.
Das
Buch Knife stammt von dem
Schriftsteller Salman Rushdie, einem ehemaligen Inder, der via
Großbritannien jetzt in den USA lebt. Es beschreibt den vor zwei Jahren auf ihn
verübten Anschlag eines Mohammedaners, der sich offenbar berechtigt sah, das
vor Jahrzehnten durch den finsteren persischen Revolutionsführer Khomeini gegen
Rushdie verhängte Todesurteil zu vollstrecken. Man erinnert sich: Rushdie hatte
den in den westlichen Feuilletons breit diskutierten Roman Die satanischen Verse veröffentlicht, der in der islamischen Welt
für viel böses Blut sorgte, weil, wie ich las, darin über den arabischen Religionsstifter
Unerfreuliches zu lesen sein soll. Der Leser bemerkt es sogleich: Ich habe das Skandal-Buch
ebensowenig gelesen, wie all die anderen, die sich darüber ereiferten.
Das
Attentat auf Rushdie war überaus brutal. Die Messerstiche brachten ihn dicht an
die Schwelle des Todes, die er wie durch ein Wunder nicht überschritt.
Besonders schauerlich wirkt noch heute auf mich, dass ihm ein Auge ausgestochen
wurde. Im ersten Kapitel des Buches erlebt der Leser den Angriff auf den Autor
in einer lesenswerten Reportage aus seiner Sicht, im wahrsten Sinne des Wortes,
bis zu dem Zeitpunkt, wo ihm die Sinne schwanden.
Doch
jetzt kommt das Ja-aber. Der Leser wird im Weiteren in die Welt des Salman
Rushdie eingeführt. Es ist eine Welt der moralischen Überlegenheit, der New
Yorker Schickeria, wo man bei Ausstellungen, bei Lesungen und bei angesagtem
Essen angesagte Leute trifft, die sich über jene erheben, die nicht so
weltoffen sind wie sie selbst. Dass ausgerechnet aus diesen Kreisen auch Leute zitiert
werden, die im Nachhinein Verständnis für den misslungenen Meuchelmord
äußerten, lese ich mit Abscheu. Ich lese mit Unverständnis, dass es Leute gibt,
die sich an der Ironie weiden, dass die Untat an einem Orte geschah, wo die
Guten sich eigens versammelt hatten, um die Alternativlosigkeit ihrer Werte zu
betonen, und im selben Atemzug lese ich Kritik am Versagen des
Sicherheitsdienstes. Eine Welt also, wo das wechselseitige friedliche und
weltumspannende Umarmen nur unter bewaffnetem Personenschutz möglich ist.
Schließlich
noch die Liebe. Darüber ist kaum zu diskutieren, wenn ein über Siebzigjähriger
sich in eine deutlich jüngere Frau verliebt, die diese Liebe erwidert. Schöne
Geschichte, das. Beide Familien sind strikt dagegen. Kommt vor. Beide Familien sind
überaus erfolgreich, auch die Familie der Frau, deren Mitglieder tauchen am
Rande auf. Einer davon, ein Bruder der jungen Frau, der erste schwarze
Bürgermeister von Weiß-ich-wo in den USA. Ach, das ist es? Gerne füge ich
hinzu, es ist mir wurscht, wer hier mit wem, aber Unmut kommt auf, wenn wir auf
diese Weise erfahren, wie wichtig dem Autor die Gewalttäter-Bewegung mit Namen Black-lives-matter
ist. Das ist unverhohlen Lob der politischen Gewalt. Aber nur, wenn’s grade
passt.
Und
als schließlich die Ausfälle gegen den eigenen Vater (angeblich ein Säufer),
der dem Autor das Leben eines Dandys an Englands Elite-Universitäten
ermöglichte, zum Thema des Buches gemacht werden, da habe ich es zugeklappt.
Soviel Korrektheit muss sein.
Zwei
Das Buch von Bernd Wagner Die Sintflut in Sachsen ist laut Untertitel,
den der Verlag für richtig hielt, ein Roman. Es ist jedoch, falls nicht alles,
was da zu lesen ist, gelogen sein sollte, in Wirklichkeit eine Autobiographie
mit einigen leicht nachvollziehbaren Verfremdungen.
Das
Buch bringt die Geschichte eines Jungen aus Wurzen (in Sachsen), Ende der
1940er Jahre dort geboren und aufgewachsen. Falls, wovon ich ausgehe, nicht
alles erfunden ist, dann ist es ein teils witziger, teils todtrauriger Schelmenroman
über einen, der unter denkbar schlechten Bedingungen auf die Lebensbahn
entsandt wird. Wir lesen im Wechsel die Reportage über diesen Weg und immer
wieder eingestreut Betrachtungen aus dem Hier und Jetzt, die uns zweierlei
zeigen: Was ist aus den im Lebensroman des Jungen vorkommenden Akteuren
geworden, und dies hier: Was musste er selbst tun, um das zu werden, was er
jetzt ist. Diese Reflexionen sind oft notwendig, denn die Welt, in der der Autor
aufwuchs, ist keine, die einem Heutigen noch geläufig wäre.
Nun
ist es ja in gängigen Autobiographien üblich, dass der Leser mit Kinder- und
Schulgeschichten behelligt wird, die man in dem Satz zusammenfassen könnte:
Bevor ich ins Leben startete, ging ich bis zum soundso vielten Lebensjahr zur
Schule in Sonstwo. Hier ist das anders. Wagners Buch ist auch und streckenweise
nur die Geschichte seiner Eltern. Der Vater ist ein selbständiger Schmied am
Rande der Stadt, die Mutter eine ehemalige Dienstbotin vom Dorf. Also eine
Aufsteigergeschichte? Nicht ganz. Haus und Grundstück sind von Vorgänger-Generationen
erarbeitet und ererbt. Man war wer, in einem eigentümlichen Stolz, dem der
Selbständigkeit, der sich auf einzelne der Nachkommen übertrug, wie man lesen
kann, denn auch die Verwandten des Autors, Onkel, Tanten, Geschwister bevölkern
detailliert beschrieben die Szenerie.
Über
dem Ganzen wölbt sich die schöne neue, soeben in Schwung kommende Welt des
Sozialismus à la DDR, in der Leute wie die Eltern der Klassenfeind waren. Wir
erleben den Niedergang des mit viel Fleiß erwirtschafteten bescheidenen
Wohlstands, das Wegbrechen der Kundschaft, das Verschwinden der einst auf jedem
der Höfe vorhandenen Pferde. Das Aussterben der Höfe selbst, zudem der selbständigen
Handwerker und Händler und mit diesen der Verfall einer offenbar einst reichen
Kneipen-Kultur, wo man sich traf, bramarbasierte und Karten spielte.
Traditionen verschwinden und mit ihnen eine wohlgeordnete und ausdifferenzierte
Gesellschaft, an deren Stelle der genormte neue Mensch treten sollte. Einige
fügten sich nur widerwillig, andere liefen mit fliegenden Fahnen über.
Und
schließlich, ich kann es mir nicht verkneifen, der Autor als Liebhaber. Das
sind mehr als nur Andeutungen, wenn es darum geht, das weibliche Geschlecht ins
Zentrum des eigenen Lebens zu rücken. Ich habe nicht vor, hier die Details
preiszugeben. Die sollte sich der Leser schon selbst erarbeiten. Doch soviel
sei verraten: Da ist mir ab und an ein verstehendes Aha oder So-so entschlüpft.
Die Zahl der Möglichkeiten ist offenbar begrenzt. Was nicht bedeutet, dass man
Anderleute Leiden der Menschwerdung nicht vergnügt liest. Ganz im Gegenteil.
Ich tat’s.
Das
Buch endet, lange nach dem Tod des Vaters, schließlich auch mit dem Ableben der
Mutter, deren spätes Siechtum den Sohn wieder in die völlig veränderte Nachwende-Vaterstadt
zurückführt. Als die kleine Trauergesellschaft nach der Beerdigung
beisammensitzt, bricht der Deich des Flusses Mulde. So geht das Buch in einem
Furioso zu Ende. Ich empfehle es allen, die in ein längst vergangen geglaubtes
Leben ohne jedes Nostalgie-Gejammer eintauchen wollen. Diejenigen, die so
gelebt haben, sind noch unter uns. Der Autor ist einer davon.
Drei
Dieses dritte Buch ist ein nobel
ediertes Bändchen des holländischen Schriftstellers Cees Nooteboom mit
dem Titel Venedig – fluide Stadt. Nun
besteht ja weiß Gott kein Mangel an Schriften über die Lagunenstadt, und jeder
Venedig-Reisende wird sein Lieblingsbuch über die Stadt und ihre Geschichten zu
loben wissen.
Das
vorliegende Buch, auf einen simplen Nenner gebracht, möchte ich den Bericht
eines Flaneurs nennen. Der Autor beschreibt, was er unternahm und sah, als er es
sich zur Gewohnheit machte, bei einem längeren Aufenthalt, also in einer
Mietwohnung wohnend, Venedig abseits der Touristen-Ströme zu seiner eigenen
Sache zu machen. Das klingt wie die Quadratur des Kreises: der Tourist als
Nicht-Tourist. Damit hat er bei mir eine Saite zum Klingen gebracht, denn der
selbe Wunsch stellte sich bei mir in den Nuller Jahren dieses Jahrhunderts ein,
als ich ein festes Quartier bezogen hatte, das es mir freistellte, mich zu
Hause zu fühlen, nicht jeden Tag etwas zu unternehmen, dafür aber für den
täglichen Bedarf einzukaufen.
Zurück
zum besprochenen Buch, es ist ein autobiografischer Text, über dessen Sorte und
Leserschaft ich mich am Eingang dieses Aufsatzes lustig machte. Nun gilt: Ich
habe ihn gelesen, um mich in ihm zu spiegeln. Er ist so, als wäre er eigens für
mich geschrieben worden. Dem Buch sind einige schwarz-weiß Aufnahmen der
Photographin Simone Sassen beigegeben. Ich nehme mir vor, beim nächsten Mal auf
den Wegen Nootebooms und seiner Gefährtin zu wandeln – beim hoffentlich nächsten
Mal.