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04.06.2008
Eine Lanze für Frau von Stein

Liebte Goethe - und wenn ja wen?

   

Als der junge Goethe im Jahre 1775 nach Weimar kam, erschien er als Gast, eingeladen durch den soeben inthronisierten achtzehnjährigen Herzog Karl August. So fangen die Geschichten meistens an. Doch es gibt eine Vorgeschichte, ohne die dieses Geschehen nicht schlüssig erklärt werden kann.
   
Das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach war ein souveräner Staat mit einem absolutistisch regierenden Herzog an seiner Spitze. Das Herzogtum gehörte zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Dieses Reich war in jenen Jahren nur noch ein Gespenst seiner selbst, das ein Federstrich Napoleons 1806 begrub.
   
Im Herzogtum Weimar wurde, 19 Jahre vor Goethes Anreise, am 16. März 1756 eine Sechzehnjährige mit dem regierenden Herzog vermählt. Sie hieß Anna Amalia und stammte aus dem Herzogsgeschlecht in Braunschweig. Sie brachte in den folgenden beiden Jahren zwei Söhne zur Welt. Doch bereits bei der Geburt des zweiten war sie Witwe.
   
Man tut nicht gut daran, sich Anna Amalia als allein erziehende Mutter im heutige Sinne vorzustellen, denn das parallele Kinder erziehen und Geld verdienen müssen kannte Anna Amalia nicht. Geld war da und genügend Personal für die Kindererziehung auch. Erziehung eigenhändig zu betreiben, war in dieser Zeit in jenen Kreisen ohnedies nicht üblich.
   
Das Problem der Anna Amalia war ein anderes. Für sie galt es, zwei Dinge zu organisieren, die eng miteinander verwoben waren. Zum einen war der Rechtstitel ihres Sohnes als eines Herzogs von Sachsen-Weimar über die Runden der Minderjährigkeit zu retten, zum zweiten galt es, eine drohende über den Sohn von fremder Hand auszuübende Vormundschaft zu verhindern. Das tat sie, indem sie die Vormundsrolle selbst ausübte. Diese Kombination der Dinge, die den angenehmen Effekt hatte, selber dem Herzogtum als Alleinherrscherin vorzustehen, war nur zu haben und über mehr als anderthalb Jahrzehnte in einem feindseligen machtpolitischen Umfeld zu behaupten, wenn man über besondere Qualitäten verfügte. Zumindest über klaren Blick, starken Machtwillen und eine gute Hand bei der Personalauswahl.
   
An dieser Stelle ein kurzer Blick auf die Personalauswahl. Zum einen war da eine Charlotte von Schardt, später verheiratete von Stein. Sie wurde die Hofdame der Herzogin. Hofdame, das darf man sich in diesem Fall nicht als ein nutzloses, wenn auch lebendiges Möbelstück denken, sondern Hofdame der regierenden Herzogin war ein persönlicher Mitarbeiter im unmittelbaren engsten Herrschaftsapparat. Die andere Position, die es zu besetzen galt, war die des Prinzenerziehers. Das wiederum war eine Sache, die nichts von einem Lehrer Lempel aus Max und Moritz an sich hatte, sondern ein Prinzenerzieher war der Mann, der aus dem herzoglichen Knaben den späteren Herrscher formen sollte, ein verantwortungsvoller Job und keine ganz leichte Aufgabe. Im Falle des späteren Herzogs Karl August hieß dieser Prinzenerzieher Graf Görtz.
   
Mit dem Herannahen der Volljährigkeit des Herzogs wurde die Situation für die Regentin kritisch. Es kann der Herrscherin nicht verborgen geblieben sein, dass dies die Stunde der Hofschranzen war. Diese pflegen, wenn sie sonst schon nichts Gescheites tun, mir feinem Gespür zu ertasten, dass der Wind sich dreht. Ein Lächeln hie, ein Tuscheln da, die Geste nach hier ein wenig flacher, der Bückling nach dort einen Zoll tiefer. Der Wechsel würde kommen. Den galt es unbeschadet zu überstehen. Bis hierher war alles wie heute.
   
Und doch fällt es schwer, sich in die persönliche Situation bei Hofe hineinzudenken. Positionen, die über Sein und Nichtsein entschieden, waren Gnadenakte, oft der Tageslaune des Herrschers geschuldet. Wie gesagt, beim Herrschaftswechsel waren die Dinge für den Hofstaat besonders prekär, denn es stand zu befürchten, dass der Neue Tabula rasa machen würde. Im Falle des Wechsels von Anna Amalia auf Karl August kam erschwerend hinzu, dass dieser Wechsel nicht durch Tod und Erbfall eintrat, sondern durch Übergabe der Herrschaft unter Lebenden. Die Abtretende blieb also existent, wenn auch ohne die formale Position der Macht. War der Neue nicht gewillt, eine Art Nebenregierung der Mutter zu dulden, so hatten alle Männer und Frauen der Mutterpartei fürderhin schlechte Karten.
   
Dem Prinzenerzieher Görtz war dieses Dilemma mit Sicherheit bekannt. Seine Position beim Herrschaftswechsel war besonders gefährdet, da er gleichzeitig auch eine persönliche Positionsänderung vornehmen musste, die nicht nur formaler Art war: Der Erzieher eines Prinzen konnte er nicht bleiben, denn den gab es nicht mehr, und der eines Herrschers konnte er nicht sein, denn diese Position gab es per se nicht. Der Erzieher musste also in die Haut eines Beraters schlüpfen. Dieser Rollentausch war psychologisch heikel, weil er die Verkehrung der Fronten vom Befehlenden hin zum Gehorchenden bedeutete. Das war nicht nur für Görtz ein Problem, sondern der andere, also Karl August, musste ertragen, dass Görtz, der ihm Jahre vorstand, jetzt weiterhin in seiner unmittelbaren Umgebung verbleiben wollte.
   
Die Ereignisse lehren, dass Görtz diese Wende meisterhaft schaffte – zumindest zunächst. Er begab sich mit dem ehemaligen Zögling auf Kavalierstour. Für Görtz galt hierbei: In dieser Zeit musste er die Wende vom Erzieher zum gern geduldeten Begleiter schaffen, er muss sie geschafft haben. Was er hierbei im Einzelnen unternahm, ist unbekannt, klar ist nur, dass er ein lohnendes Ziel verfolgte, denn die zukünftige Stellung eines ersten Beraters bei einem nicht sonderlich gescheiten jugendlichen Herzog war ein Amt, gleichbedeutend mit dem eines tatsächlich Regierenden.
   
Für Görtz bedeutete das Beachten der ihm bekannten Spielregeln, dass er aus dem Fahrwasser seiner bisher allein maßgebenden Herrscherin, das war Anna Amalia, entkommen musste und auch den leisesten Hauch ihres Parfums aus seiner Perücke zu verbannen hatte. Es spielte dieses Spiel der Herrschaftssicherung perfekt, indem er die Trennung der bisherigen Regentin vom Hofe und ihre Abschiebung auf den Alterssitz organisierte. Das wäre vielleicht glatt gegangen, wenn dem cleveren Grafen nicht ein Fehler unterlaufen wäre, von dem er unmöglich wissen konnte, dass es einer war, als er ihn beging.
   
Jetzt, und erst hier, kommt Goethe in der Geschichte vor. Als der gerade volljährige, aber noch nicht inthronisierte Karl August mit Görtz seine Kavalierstour unternahm, streiften die beiden, auf dem Wege nach Frankreich, auch die Reichsstadt Frankfurt. Hier organisierte Görtz, dem es zu tun war, seinen ehemaligen Zögling auf das angenehmste zu unterhalten, einen Besuch beim Jungstar des Theaterlebens, dem dort ansässigen Johann Wolfgang Goethe.
   
Den Starrummel um Goethe recht zu verstehen, muss man sich vor Augen führen, welchen Stellenwert das Theater im damaligen gesellschaftlichen Leben einnahm. Das ist mit den heutigen Zuständen kaum zu vergleichen, weil das sog. gesellschaftliche Leben auf eine kleine Gruppe von Herrschenden und Reichen fokussiert war und die Vergnügungen eher ortsgebunden stattzufinden hatten. Neben der Jagd, ausschweifenden Sauf- und Fressereien war es vor allem das Theater, das für Kurzweil sorgte. Wer auf dieser Woge zu schwimmen verstand, befand sich in der Sonne des Lebens. Der junge Goethe, der auf Kosten seiner wohlhabenden Eltern leben durfte, gehörte dazu. Sein Götz von Berlichingen hatte Furore gemacht.
   
Aus dem Kennenlernen in Frankfurt wurde eine Einladung nach Weimar, als der nunmehrige Herzog in Thüringen zurück und in sein Amt eingeführt war. Aus der Einladung wurde ein längeres Dableiben und aus dem Dableiben eine Freundschaft, schließlich eine Lebensstellung. Schon die Freundschaft zwischen Goethe und dem Herzog kann nicht im Sinne des Staatenlenkers Görtz gelegen haben. Denn nunmehr trat etwas ein, was alle sorgsam organisierten Pläne zunichte machte, denn Görtz verlor seine Stellung.
   
Der Prozess ging keineswegs so schnell, wie sich das hier schreibt, und den Beteiligten wurden die Folgen ihres Tuns erst allmählich klar. Der Tourist und Spaßmacher Goethe bewegte sich zunächst in einem höfischen Leben, das die bürgerliche Vaterstadt nicht zu bieten hatte. Dort hatten Pfeffersäcke das Sagen, hier in Weimar war es überfeinerte Etikette nebst einem zum Herzog erhobenen vierschrötigen Jüngling, der die Späße des Frankfurters anziehender fand, als das streng distanzierte Wohlwollen des gewesenen Erziehers. Etwas besonderes war auch dem Zugereisten angenehm. Die schier exstatische Bewunderung, wenn nicht Vergötterung, die ihm aus den Gemächern der abgetretenen Herzogin zuteil wurde. Es waren zwei Frauen, die hier ihr Garn spannen, Anna Amalia und die Hofdame Charlotte von Stein. Beide hatten eigenwillige Motive, den jungen Goethe bei der Stange zu halten.
   
Zunächst ein Blick auf das rein Weibliche. Die Aussagen darüber, wie denn nun die Damen aussahen, sind spärlich und zu allem Überfluss durch Parteinahme so unterschiedlich, dass eine auch nur vage objektive Beurteilung scheitern muss. Von Charlotte von Stein ist ein Scherenschnitt bekannt, der sie im Profil zeigt. Auch der ärgste Widersacher wird an diesem Profil wenig auszusetzen finden. Es ist zumindest denkbar, dass es zu einer schönen Frau gehörte. Bei den Abbildungen der Anna Amalia kann man zwei Dinge mit Sicherheit sagen. Erstens würde es kein Auftragsmaler gewagt haben, die Dame ungünstig abzumalen, zum zweiten ist das, was wir heute betrachten können, nicht dazu angetan, sie im heutigen Sinne als schön zu bezeichnen. Mag sein, dass man vor zweihundertundfünfzig Jahren anders über diesen Umstand dachte, aber sehr wahrscheinlich ist das nicht.
   
Nun zu den sog. inneren Werten, über die man gerne spricht, wenn’s mit der blendenden Schönheit nicht ganz so leuchtend bestellt ist. Auch hier ist es so, dass die Urteile der Zeitgenossen schwankend sind. Einige wenige haben die Mme. Stein als ein bisschen blöd dargestellt. Sowas soll auch heutzutage, vor allem unter Kollegen üblich sein. Bei der Herzogin war man zurückhaltender, denn sie konnte einem sehr schaden, wenn die Kritik ruchbar wurde. Von ihren sonstigen Vorzügen wissen wir wenig. War sie klug? War sie charmant? War sie gar zärtlich, mannstoll, frivol, originell, schlagfertig, zurückhaltend, nachtragend, freigiebig? Alles unbekannte Größen. Musisch wird sie wohl gewesen sein.
   
Was also zog den nachmaligen Dichterfürsten durch diese Frauen an, mit denen er so viele Abende in den ersten zehn Jahren seiner Weimarer Existenz verbrachte. Wir lesen zu diesem Zweck die Unzahl seiner Liebesbriefe und kommen zu dem Ergebnis: Es ist nicht herauszufinden.
   
Die Schriftstücke, die man als die Briefe an Frau von Stein bezeichnet, was neuerdings heftig bestritten wird, lassen eines mit Sicherheit sagen. Sie sind in der Diktion so unterschiedlich, dass man Zweifel anmelden mag, sie seien an ein und dieselbe Person gerichtet. Ton, Anredformen und Mitteilungsrichtung ändern sich ständig. Bei einer ganzen Zahl von Briefen ist fraglich, ob man sie überhaupt im Wortsinne als Briefe bezeichnen sollte. Etliche sind Notizzettel, andere eher Tagebuchblätter von Reisen. Aus diesem Mangel an Stringenz ist der Schluss gezogen worden, die meisten Briefe seien nicht an Charlotte von Stein gerichtet, sondern an die gewesene Herzogin Anna Amalia. Sie, und nicht Frau von Stein, sei mithin Goethes Geliebte gewesen.
   
Das sind kühne Gedanken, denn eines ist vorweg zu sagen. Niemand sah die Paarung Johann Wolfgang und Charlotte, geschweige denn Johann Wolfgang und Anna Amalia in Flagranti. Nichts dergleichen ist bekannt, man kann die wenig wohlmeinenden Briefe von Zeitgenossen solang auswringen, wie man will, außer Gerüchten tritt nichts zu Tage.
   
Doch sehen wir weiter. Wie sieht es nun mit den sog. Liebesbriefen aus? Aus welchem Spundloch traten sie zutage, um den angemessen erschauernden Apologeten der Weimarer Klassik die Liebesgeschichte vom Dichterfürsten mit der Charlotte von Stein aufzutischen? Hier ist die Antwort: Aus dem Nachlass jener Charlotte von Stein. Wie man angesichts dieser Tatsache behaupten kann, die Briefe seien nicht an sie, sondern an ihre Chefin Anna Amalia gerichtet gewesen, ist rätselhaft. Das schon deswegen, weil dann die schöne Konstruktion, Charlotte sei quasi nur der Briefkasten gewesen, um die Briefe an die wahre Empfängerin durchzureichen, auf wackligen Beinen steht. Die wirkliche Adressatin, Anna Amalia, müsste dann die Briefe nach Lektüre an ihre Hofdame wieder herausgegeben haben. Um somit was zu erreichen? Den Mummenschanz zu verlängern? Dann müssten die Damen wahrhaft genial konspirativ gehandelt haben, nach dem Motto: Ich gebe die Briefe nach dorthin zurück, wo der vermeintliche Empfänger ist, damit spätere Forschung dereinst irre geleitet wird. Die Frage bleibt: Handelt eine liebende Frau so, selbst wenn sie Fürstin ist? Wohl kaum.
   
Goethe war ein Schlawiner. In der Tat. Schrieb Briefe („hier meine Liebe, noch ein Biefgen“) durchsetzt mit fremdsprachigen Floskeln, auch in Italienisch und in Latein. Diese Sprachen, so lesen wir, verstand nicht Charlotte, sondern nur ihre Herrin, die Frau Herzogin. Wozu also diese Sprachbrocken? Sie konnten sich nur an Anna Amalia richten. So wird gesagt. Doch auch an dieser Brücke muss das Schild „Betreten auf eigene Gefahr“ aufgestellt werden. Warum schrieb Goethe italienisch? Weil er es gut konnte? Nein, er schrieb es, weil er in Italien war, dem Land seiner Sehnsüchte, wo es warm war, ein Land, das ihn bezauberte, wie viel Deutsche vor und nach ihm. Er schrieb italienisch, weil er, in aller Bescheidenheit sei es angemerkt, ein Angeber war. Seht her, ich kann es. Und nun: Charlotte konnte das nicht lesen? Wenn sie, was man bislang annahm, ein volles Jahrzehnt die heimliche Geliebte dieses Mannes war, wird sie Wege gefunden haben, das, was der ferne Gott aufschrieb, ins Deutsche übertragen zu lassen. Vielleicht sogar von der Herzogin. Da werden die beiden Vertrauten beisammen gesessen, sich über die Auslassungen amüsiert haben, war sonst ja nicht viel los in Weimar.
   
Damit sind wir an einer wichtigen Ecke dieses Beziehungsgeflechts angelangt. Wie war das mit den beiden Frauen, was trieben sie mit dem zunächst auf Besuch in Weimar weilenden jungen Goethe? Wir stellen uns vor, sie werden sich verhalten haben, wie es ihrem Alter, ihrem Geschlecht und den Sitten der Zeit angemessen war. Das bedeutet, sie haben auf Teufel komm raus geflirtet mit dem jungen Mann, der sich so wohltuend vom grobschlächtigen Hofstaat unterschied. Ein Blick hier, eine Berührung da, und dann vor allem, um ihm den Kopf zu verdrehen, ein Briefchen hier, ein Zettelchen dort, überbracht von einem Diener nach Einbruch der Dämmerung. Das brachte ein wenig Spannung in die triste Provinzexistenz an der Ilm. Die Damen hatten Erfolg mit ihrem Tun, der Jungstar verlor den Kopf, verlor ihn so stark, dass er die Abreise immer wieder hinauszögerte.
   
Hier ist zu fragen: Warum handelte das Duo Anna und Charlotte so? Die Antwort ist ernüchternd. Die soeben aus der Machtstellung entfernte Anna Amalia unterlag den geläufigen Mechanismen eines Machtverlusts. Hier tut sich dem Betroffenen der schier unglaubliche Zwiespalt zwischen Gewohntem und der Realität auf. Es ist wie eine im Leerlauf auf höchsten Touren laufende Maschine. Dieses Laufen ohne Last geht nie lange gut. Dann folgt das Zerbrechen.
   
Anna Amalia war klug genug, um zu erkennen, in welcher Situation sie sich befand. Selbstredend trugen ihr Höflinge zu, was die Görtz-Partei, die sich stromlinienförmig im Schlepptau ihres drallen Sohnes eingeschleimt hatte, mit ihr, der gewesenen Herrschaft vorhatte – nämlich die Sechsunddreißigjährige vom Hofe zu verbannen. Nun zog die Mutter ihre Strippen, sie tat es auf die ihr gemäße Weise. Schnell erkannte sie, dass der dichtende Taugenichts, der da zusammen mit ihrem Sohn die umherspringenden Bauernmädel beschlief, eine ganz andere Saite besaß, die man nur zum Klingen bringen musste. Dem Flausenmacher, der auch ein Flausenhaber war, musste höfische Liebe in derart manifester Form vorgegaukelt werden, dass er blieb. Ihm musste also suggeriert werden, dass er sonst etwas verlor, und dieses Etwas war ein unstillbares Verlangen, eine unerfüllbare Sehnsucht, eine höfische Liebe eben.
   
Aus Sicht der Anna Amalia war dies reine Berechnung. Sie stellte sich vor, und lag damit genau richtig, dass der anwesende Goethe ein Garant dafür war, dass sie den Platz bei Hofe halten konnte. Hier war das körperliche Anwesendsein gemeint, alles andere würde sich wie von selbst ergeben. Auch damit lag sie goldrichtig.
   
Nebenbei galt es, den Sohn zu bearbeiten. Der war nur äußerlich ein schwerer Brocken. Er musste gesagt bekommen, dass sein neuer Lieblingsgespiele nur dann zu halten sei, wenn neben dem Kumpanentum ein prächtiges Staatsamt zum Bleiben nötigen würde. So ward es verhandelt und beschlossen. Goethe wurde Minister, und er blieb. Ihn hielten zwei starke Argumente. Das eine war ein festes Gehalt, wichtig genug für einen, der als junger Literatenstar bereits erfahren hatte, dass man in Deutschland von den Tantiemen aus Geschriebenem nicht leben kann; das andere waren zarte Bande, über deren reale Existenz nunmehr zu reden sein wird.
   
Wen also liebte Goethe? Und: Wurde diese Liebe erwidert, oder platt gefragt: Wurde er zurückgeliebt? Mit dem Dichter zu beginnen: Er liebte stark, nämlich sich selbst. Wenigstens hierüber sind wir ausreichend unterrichtet. Wer nach diesen Dingen forscht, trifft auf ein gigantisches Oeuvre, das uns Goethe über sich selbst hinterlassen hat. In diesem hat der Meister dem Publikum kund getan hat, was für ein toller Hecht er war. Das ganze Gerede vom Musenhof der Anna Amalia war ihm vor allem eines: Es war der Hochsitz, auf dem sich der angehende Dichterfürst der aufhorchenden Öffentlichkeit glanzvoll präsentieren konnte, ein Zustand, der bis heute andauert. Goethe wurde zum Multi-Star. Dass dies geschehen konnte, verdankte er vor allem einem, nämlich sich selbst. Wenn je einer ein Meister der Selbstinszenierung war, dann er. Doch Goethe war klug genug, um zu wissen, dass zum höfischen Hochsitz eben jener Hof gehörte. Also machte er den Damen den Hof. Es waren deren zwei, die der Dichter zu versorgen hatte: eine Adlige und eine Fürstin, beide standen im gesellschaftlichen Rang weit über ihm, die eine deutlich und die andere unerreichbar. Liebte er sie, eine von beiden, oder gar alle beide? Wir befinden uns in der peinlichen Situation zugeben zu müssen, dass wir es nicht wissen. Wir stellen uns allerdings vor, dass er Charlotte sehr konkret zum Anbeißen fand und die Fürstin eher zum Anschmachten. Ein Mann seines Zuschnitts mochte das durchaus verbinden: Während er mit der einen schlief, dachte er an die andere.
   
Schnell sei an dieser Stelle eingeräumt, dass wir uns in einiger Verlegenheit befinden, das zuvor Gesagte mit Nachdruck zu behaupten, denn wir kennen aus erster Hand nur die eine Hälfte des Corpus delicti, nämlich die „Zettelgen“ und „Briefgen“ aus des Dichters Hand, aufbewahrt im Nachlass der Charlotte von Stein. Sie kann, so wird gesagt, die Bettgenossin des jungen Goethe nicht gewesen sein, verheiratet und Mutter von sieben Kindern zudem. Sowas gehe nicht zusammen. Wieso eigentlich nicht, so ist zu fragen. Dass Frauen praktisch ständig schwanger waren, ist der Normalfall jener uns heute so fern scheinenden Zeit, und dass die Schwangeren auch gern anderweitig verkehrten, wie es so schön heißt, kannten bereits die klassischen Römerinnen als viel belachtes gesellschaftliches Phänomen. Wieso also nicht nacheifern in einer Zeit der allgemeinen Klassik-Besoffenheit.
   
Wir können, das sei wiederholt, dergleichen nur vermuten. Es fehlt das wesentliche Beweisstück von einigem Rang, nämlich die Briefe, die es in der Gegenrichtung gegeben haben muss. Es waren dies Schriftstücke von der Hand der Charlotte von Stein oder von Anna Amalia oder gar von beiden. Wir stellen uns vor, dass sich aus diesen Briefen neben der Masse der Belanglosigkeiten auch interessante Details ergeben haben mögen. Denken wir nur an Hinweise auf Schwangerschaften. Doch auch hier sind alle, die sich mühen, auf reine Spekulation angewiesen.
   
Eines, am Rande bemerkt, ist nahezu sicher: Goethe war nicht impotent. Er wird es auch in der Zeit seines ersten Weimarer Jahrzehnts nicht gewesen sein. Ob er sich in dieser Zeit allein an den Landmädchen abarbeitete, wie er es in seinen Briefen zu schildern durchaus nicht unterließ, mag dahinstehen. Dass er es in den Briefen an die Geliebte überhaupt erwähnte, wirft ein seltsames Licht auf seine Beziehungen zu den Damen bei Hofe. War man derartig intim, dass er die Adressatin quasi in sein Bauernbett mitnahm? Oder wollte er sie schlicht eifersüchtig machen. Schau mal, ich kann auch ohne dich.
   
Es bleibt, wie schon gesagt, müßige Spekulation, solange wir die Antworten nicht kennen. Diese Briefe wurden mit hoher Wahrscheinlichkeit vernichtet. Im Haus am Frauenplan walteten nach Goethes Tod für Jahrzehnte die beiden männlichen Enkel. Sie hockten auf dem großväterlichen Hort und mögen den, bevor sie alles dem Staate Sachsen-Weimar vermachten, bebrütet und bereinigt haben. Die Vernichtung inkriminierender Briefe lag nahe. Hierüber belehrt ein Blick in die Sitten der Zeit. Wir befinden uns in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Die Ära bürgerlicher Prüderie strebt ihrem Höhepunkt entgegen. Wir stellen uns die beiden unbeweibten Enkel vor, wie sie mit glühenden Wangen Liebesbriefe verschlangen, an den vergötterten wie gefürchteten Großvater gerichtet, der längst in den Olymp der Unsterblichen aufgestiegen war. Sie mussten befürchten, dass hier Menschliches allzu Menschliches zu Tage trat, was dem Bilde des Olympiers abträglich sein musste. Sie lasen die Korrespondenz zweier Frauen, die an Deutlichkeit vielleicht nichts zu wünschen übrig ließ, und konnten nur hoffen, dass die Gegenstücke von der Hand des Großvaters längst im Orcus verschwunden waren. Das war ein Irrtum, wie sich später zeigen sollte, doch da war es bereits zu spät. Was den Goethefreund und seinen Fledderer brennend interessieren musste, existierte nicht mehr.
   
Nun kommt das Ende. Das Ende der Liebesgeschichte. Goethe floh nach einem Jahrzehnt in Weimar gen Italien. Er hatte allen Grund dazu. Er fürchtete die Offenbarung eines Geheimnisses, doch es war nicht, wie zu lesen ist, die Aufdeckung der Liaison zwischen ihm und der Fürstin Anna Amalia, denn dieses Geheimnis gab es nicht. Diese Liaison war jahrelang Gegenstand aller Plappermäuler. Die in Weimar gebliebene Gräfin Görtz schrieb ihrem in den Preußendienst gewechselten Hofmann spitzmäulig darüber, und es kann nicht angenommen werden, dass dieser die schlüpfrige Geschichte für sich behielt. Nein, die Wirklichkeit im Kopfe Goethes sah etwas trister aus. Ein Jahrzehnt lang hatte er in höfischer Liebe geschwelgt, hatte angenommen, das, was ihm an glühenden Episteln eingefallen war, werde erwidert, und nun war er ans Ende der Fahnenstange gekommen. Ihm wurde klar, wahrscheinlich sagte es ihm einer, was seine Rolle in diesem Spiel gewesen war: die eines Hahnreis, den die Damen Anna Amalia und Charlotte heimlich belachten.
   
Die Kränkung seiner Selbstliebe muss unbeschreiblich gewesen sein. Unerträglich war ihm mit Sicherheit, dass auch Karl August, der Herzog und sein Dienstherr, in die Details eingeweiht war. Vielleicht war er es, der den entsetzt schweigenden Goethe bei einer Sauferei ins Bild setzte. Der Genasführte floh, er brauchte lange, um sich wieder zu beruhigen. Was er als Dichter hierüber zu Papier brachte, war ein schlecht gemachtes Theaterstück mit einer stümperhaften Handlung. Torquato Tasso. Ein Dichter liebt vergeblich eine Fürstin. Er zerbricht dran und geht zugrunde. Nun, Goethe war von robusterer Natur, er kehrte an den Futtertrog nach Weimar zurück.

 

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